Der pensionierte Polizeibeamte Claus Niemann ist Sprecher des Harburger Integrationsrates. Foto: wit

Ex-Polizist Claus Niemann (Harburger integrationsrat, Gründer Integrationsverein Wilhelmsburg) über die Silvester-Vorfälle

Wolfgang Wittenburg, Hamburg. Für die Angriffe auf Einsatzkräfte in der Silvesternacht waren überwiegend junge Männer verantwortlich. Meist aus sozial schwachen Familien, ohne klare Zukunftsperspektive, teilweise mit Migrationshintergrund. Eine schwierige Gruppe, um die sich Claus Niemann seit vielen Jahren kümmert. Der 76-Jährige war 38 Jahre als Polizeibeamter in Harburg und Wilhelmsburg im Einsatz und arbeitet seit 17 Jahren im Harburger Integrationsrat mit. Um Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Herkunftsländern die Integration zu erleichtern, hat Niemann vor 15 Jahren in Wilhelmsburg ein Projekt gegründet, das längst Vorbildcharakter hat. Das Elbe-
Wochenblatt sprach mit Niemann über die Silvester-Vorfälle.

EW: Wie beurteilen Sie die Silvesternacht-Geschehnisse, etwa in Neuwiedenthal und Harburg?
Niemann: Aufgrund der Wohnbevölkerung mit hoher sozialer Schieflage waren Auswirkungen wie in der Silvesternacht nicht gerade erwartbar, doch zumindest vorplanbar. Das war ein Hilferuf! Jedem müsste doch bewusst sein, dass sich solche Vorfälle, die durch Unzufriedenheit hervorgerufen werden, sich auch dort abspielen, wo die Unzufriedenheit am deutlichsten erkennbar ist. Dass Stubbenhof und Teile von Neuwiedenthal dazugehören, dürfte nicht nur den Fachleuten nicht neu sein. Das ist nur eine Minderheit der Bewohner, hat aber leider eine deutliche höhere Außenwirkung.

Warum verhalten sich Jugendliche und Heranwachsende so?
Ganz sicher ein Punkt der Unzufriedenheit sind die Lebensumstände und Bildungsstände. Stundenweise Angebote, beispielsweise einmal die Woche Fußballtraining, sind sicher hilfreich, aber kein genügender Anreiz für eine dauerhafte Strukturierung der Lebensgewohnheiten. Erfahrungen für eine verbesserte Perspektive sind im positivem Sinne bei vielen der Jugendlichen kaum oder wenig vorhanden, leider auch keine sogenannten Vorbild-Angebote, die einem suggerieren: Wir helfen dir, du hilfst uns!

Was kann wer dagegen tun?
Bewegung, beispielsweise im sportlichen Bereichen, gehört zur Bildung, wird aber gerade denen, die es am Nötigsten bräuchten, nicht in dem Maße angeboten, wie es erforderlich wäre. Wenn, wie ich es selbst als Übungsleiter festgestellt hatte, Siebenjährige keinen Purzelbaum mehr kennen oder können, beim Balancieren Angst bekommen, dafür aber die technischen Herausforderungen bei Handy oder Computerspielen spielend und perfekt erfüllen, sollten wir zumindest mit dem Nachdenken anfangen. Wenn Kinder die Technik beherrschen, nicht aber ihren eigenen Körper, mangelt es schlichtweg nicht nur an Bewegung, sondern massiv auch an Sprache. Beides gehört eng zusammen. Deshalb ist ein Angebot an Bewegungsarten gerade in Bezirken mit hohem Migrationsstand immens wichtig.

Welche Lehren sollten aus den Silvester-Vorfällen gezogen werden?
Die Sozialarbeiter auf den Straßen sollten gerade in den ,sozialen Randgebieten mit deutlicher Schieflage‘ nicht nur die Besten sein, sondern möglichst auch hochmotiviert. Leider stehen sie nicht auf dem Podest, wo sie hingehören. Wie bei der Polizei, die teilweise ebenfalls an der vordersten Front eingesetzt wird, stehen nicht die Räte und Oberräte oder Direktoren auf der Straße und halten den täglichen Kontakt im Milieu, sondern die ihnen untergeordneten Dienstgrade, die sich die größte Mühe geben. Der richtige Aufstieg fängt dann meistens, und nicht nur in diesem Bereich, im Verwaltungs- und Bürokratiebereich an. Diese Sachlage ist vermutlich nicht zu ändern, hat aber trotzdem etwas mit Motivation im weiteren Sinne zu tun. Wertigkeit zeigt sich auch im Portemonnaie. Offene Anerkennung und dementsprechende Entlohnung ist sicher nicht der einzige, aber ein wichtiger Baustein in allen sozialen Berufen. Motivation kann nur derjenige weitergeben, der selbst motiviert ist.

Bewegungsprojekt
Vor 16 Jahren entwickelte Claus Niemann mit Uli Gomolzig, dem damaligen Leiter des Hauses der Jugend in Wilhelmsburg, ein Bewegungsprojekt. Ihre Grundidee: Gemeinsames Turnen, Klettern, Spielen macht es auch leichter, sich in einer gemeinsamen Sprache zu verständigen. Sie luden Kinder unterschiedlicher Herkunft ein, zusammen Sport zu treiben. Daraus entstand der „Verein zur Förderung der Integration in Hamburg Wilhelmsburg e.V.“.
„Für Kinder ist dieses Training in jeder Beziehung gut“, ist Claus Niemann überzeugt. „Sie erleben ihren eigenen Körper, werden selbstbewusst und stark, und sie erleben etwas in Gemeinschaft mit anderen. Und – quasi nebenbei, aber dafür um so wichtiger, lernen sie deutsch. Kinder, die den ganzen Tag nur vor der Glotze hängen oder am Handy rumspielen, driften irgendwann ab in eine Parallelwelt. Die verlieren wir.“ Inzwischen nutzen jede Woche rund 650 Kinder und Jugendliche das kostenlose Angebot am Rotenhäuser Damm.

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