Marsch in Eiderstedt. Foto: Jan van der Crabben/Wikimedia

Neues vom Nachbarn – Wochenblatt Kolumne von Oliver Lück

Oliver Lück.
Foto: www.heiderose-gerberding.com

Wenn über Nordfriesland die Sonne untergeht, kann der Himmel zum Spektakel werden. Wild verschwimmen die Farben, als wäre ein Tuschkasten umgekippt. Betäubend ist das Licht. Es tanzen Riesen und Zwerge. Atompilze, Raumschiffe und Wolkenmonster. Kondensstreifen sind Laserstrahlen.

Alles wie im Kino. Endlos weit ist diese friesische Leinwand. So weit wie der Himmel sonst nur über dem Meer ist. Und das eingedeichte, baumlose Land, das mal Meer war, duckt sich weg. Es geht in Deckung vor dem Schauspiel da oben, unter dem alles klein wird und winzig wirkt, unter dem alles zu verschwinden scheint.

Alles hängt mit allem zusammen in Nordfriesland. Der Himmel, das Meer, der Wind. Die Inseln, die Halligen und das vom Wasser freigegebene Land: das Watt. Nur geliehen. Zweimal täglich. Die Deiche und die Schafe, die im Abendlicht wie rosa Zuckerwatte leuchten. Die Vogelschwärme und die Salzwiesen. Und irgendwo auch Menschen. Auf Augenhöhe mit dem Meer.

So ist das hier oben, im Land der blankgescheuerten Backsteinhäuschen und mächtigen Bauernhöfe. Es ist das Polderland, wo Wege ans Meer immer über Deiche führen. Es sind die Wälle gegen das Wasser, die für klare Verhältnisse sorgen. Sie teilen die Landschaft und das Leben. Die Menschen von der Küste haben einen Satz dafür, der ein bisschen klingt wie ein Slogan oder der Spruch vom Kalenderblatt November: „Kein Deich, kein Land, kein Leben.“ Das ist der friesische Dreiklang.

Wenige Meter über Normalnull. Höher hinauf geht es nirgendwo. Manch einer sagt, die Nordfriesen haben die Deiche gebaut, um einen besseren Überblick zu bekommen. Stur und etwas verschlossen, abwartend und von stiller Freundlichkeit sollen sie sein. Friesisch herb eben. So erzählt man es sich. Ob dem wirklich so ist, muss jeder selber herausfinden.

Was ganz sicher ist: Man muss etwas lauter reden, damit man gehört wird – denn schnell werden Worte vom Wind verrauscht. An manchen Tagen reißt er mit unsichtbarem Griff die Kapuze vom Kopf. Dann muss man sich gegen den Sturm stemmen, um das Gleichgewicht zu halten. Ja, so ist das hier bei uns oben, vor der eigenen Haustür. Und jetzt fahre ich in den Urlaub: nach Nordfriesland.

 

Oliver Lück

ist Journalist und Buchautor. Jede Woche erzählt er an dieser Stelle von seinen Beobachtungen und Begegnungen. Aktuell im Handel sind von ihm:

Zeit als Ziel – Seit 20 Jahren im Bulli durch
Europa
(Conbook-Verlag, 250 Fotos und 140 Kurzgeschichten)

 

 

 

Buntland – 16 Menschen,
16 Geschichten
(Rowohlt Verlag, 256 Seiten plus 32 Fotoseiten)

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here