Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe unseres Magazins „Binnenhafen live“
Heike Klovert arbeitet als Journalistin und lebt mit ihrer Familie auf dem Hotelschiff KANAL77 im Harburger Binnenhafen. Hier erzählt sie, wie sie die Coronazeit erlebt hat.
Heike Klovert, Harburg. Als der Lockdown begann, kamen wir gerade aus dem Urlaub an der wilden und wellenumtosten Algarve. Wir sind sozusagen nach Hamburg zurückgeschlüpft, am 16. März im Flieger aus Lissabon. Es war der Tag, an dem Kanzlerin Merkel im Fernsehen von einer „historischen Aufgabe“ und einer „schweren Prüfung“ sprach. Hunderttausende Deutsche steckten danach in Marokko und Südafrika, Indien und Kamerun, Peru und Neuseeland fest. Wir packten zu Hause am Lotsekai unseren Koffer aus, erleichtert, dass wir noch so problemlos aus Portugal ausreisen konnten.
Danach wollte Marcel eigentlich in seine zweite Saison starten. Er hatte sich darauf gefreut, wieder jeden Tag Gäste zu begrüßen, ihnen morgens das Frühstück zu servieren, mit ihnen zu plaudern, über ihre Heimat, über Harburg und darüber, wie er zwei Jahre lang einen hundertjährigen Schüttgutfrachter in ein Hotel verwandelt hatte.
Doch stattdessen kamen Absagen. Im Online-Buchungskalender verschwanden die Einträge wie gute Geister, die sich in der Pandemie erschrocken zurückziehen. Ich war in diesen Tagen froh, dass ich die Kalenderseite nicht anschauen musste. Sie hätte mich unsäglich deprimiert.

Wir haben eine klare Arbeitsaufteilung in der Familie: Marcel betreibt das Hotel. Er kümmert sich um Check-ins und Check-outs, Buchungsanfragen, Einkäufe, Frühstück, Wäsche wegbringen und abholen (Das Saubermachen der Zimmer hatten bis vor der Coronakrise die Mitarbeiter einer Reinigungsfirma übernommen). Ich arbeite als Redakteurin beim SPIEGEL und schreibe dort über die Themenbereiche Psychologie und Familie.
Während es in Marcels beruflichem Alltag mit einem Mal sehr still wurde, brummte mir der Kopf. Ich fuhr nach dem Urlaub nur noch einmal in die Redaktion, um Notizen, ein Mousepad und meine Tastatur zu holen. Dann klappte ich an einem Tisch in einem der leeren Gästezimmer meinen Laptop auf und stöpselte meine Handykopfhörer ein.
Damit telefonierte ich durch die ganze Republik: Ich fragte Senioren, Alleinerziehende und junge Menschen mit Vorerkrankung, wie sie durch die Krise kommen. Ich sprach mit der Ärztin einer Berliner Lungenklinik darüber, wie sie Covid-19-Patienten das Sterben erleichtert. Ich ließ mir von der Tochter eines pflegebedürftigen Paares erzählen, wie sie nun ohne ihre polnische Pflegerin zurechtkommen.
Es erfüllte mich, diese Themen aufzuschreiben. Ich liebe es, darüber zu berichten, wie sich das Weltgeschehen für Frau W. und Herrn M. anfühlt. Es bringt die abstrakten Vorgänge, die die Nachrichten bestimmen, plötzlich so nah.
Doch die Arbeit im Homeoffice strengte mich auch an, besonders am Anfang. Ich fühlte mich zerrissen zwischen meinen Recherchen und unserem Sohn Tom, der nicht mehr in die Schule durfte und sich von morgens bis abends die meiste Zeit allein beschäftigte. Wenn er zu mir kam und fragte, wann ich endlich mit ihm spielen könne, raunzte ich ihn überfordert an. Ich war überzeugt, dass wir diesen Zustand nicht länger als zwei Wochen aushalten können.
Die zwei Wochen gingen vorbei, die dritte und vierte auch, und mit der Zeit gewöhnten wir uns an den neuen Alltag. Tom kam tagsüber immer seltener zu mir und malte lieber bücherweise Monster, klebte Konfettikanonen zusammen und schnitzte Schiffe aus Schaumgummi. Er hörte ein Hörbuch nach dem nächsten. Ich lernte, meine Arbeit öfter für eine Partie Tischkicker zu unterbrechen. Und Marcel nutzte die Zeit ohne Gäste, um unser privates Badezimmer umzubauen.
Die Gästezimmer sind mit modernen, schicken Bädern ausgestattet. Doch wir als Familie benutzten noch die alte Schiffstoilette hinten in der Kapitänswohnung. Sie hatte keinen Geruchsverschluss und muffelte. Sie war so hoch, dass Tom anfangs einen Hocker brauchte, um sich daraufzusetzen. Und die Klobrille wackelte, egal wie oft man sie festschraubte.
Die Coronazeit schien perfekt, um dieses letzte große Umbauprojekt an Bord endlich anzugehen. Jetzt, nach zwei Monaten, sind wir fast fertig. Es fehlen noch die schwarzweißen Kacheln, die wir neulich in einem Fliesenladen ausgesucht haben, die Gesichter verborgen hinter Stoffmasken.
Auch in anderer Hinsicht habe ich das Gefühl, dass die Zeit, die hinter uns liegt, ganz schön produktiv und lehrreich waren. Wir wissen jetzt, wie man vorausschauend für die ganze Woche einkauft. Wir wissen, wie man Brennnesselbrot und Tannenspitzengelee zubereitet. Wir wissen, dass wir Konflikte am besten lösen, wenn wir uns auf dem Wohnzimmerteppich zum Familienrat zusammensetzen. Und dass es gegen das Gefühl der Abgeschiedenheit hilft, mit Freunden und Verwandten zu videofonieren.
Ich würde sagen, wir haben die vergangenen Wochen gut überstanden, mental und zwischenmenschlich. Aus finanzieller Sicht waren sie eine Katastrophe. Die Hilfe, die wir von Bund und Land bekommen, hält uns über Wasser und dafür sind wir dankbar. Aber den Einkommensverlust fängt sie trotzdem längst nicht auf.
Zwei Monate lang übernachtete an Bord nur gelegentlich ein Schiffsingenieur oder Fernfahrer. Urlaubsreisen und die meisten Geschäftsreisen waren schließlich abgesagt. Seit Mitte Mai dürfen wir auch wieder Touristen aufnehmen, in zunächst drei von fünf Zimmern. Tom freut sich darüber so sehr, dass er am liebsten allen Gästen sein Kinderzimmer zeigen würde.
Ich freue mich auch, dass das Hotel nicht länger so still und leer ist. Gleichzeitig ist mir sehr bewusst, dass die Krise nicht vorbei ist. Es ist noch genauso wichtig wie zuvor, dass wir auf Abstand und Hygiene achten. Ich hoffe, dass es klappt, die Infektionszahlen auf diese Weise einigermaßen niedrig zu halten. Denn einen zweiten Lockdown will ich nicht. Auch wenn wir drei den ersten besser gewuppt haben als gedacht.