Nicht nur Museumsschiff: Adrian Carstens hat
eine alte Tjalk wieder fit gemacht
Norbert Scheid, Harburg.
Welcher Hobbysegler verliert denn sein Herz an einen so merkwürdig platten alten Kahn? Dann steht er da, am Kanalplatz im Harburger Hafen: Adrian Carstens, der Eigner. Ein Seebär von 140 Kilo mit mächtigem dunklem Bart. Der ideale Statist für Piratenfilme. „Moin“, sagt er freundlich am späten Abend, tritt nahe ans Wasser, schaut hinab und murmelt: „Das ist ‘Jonathan’, eine holländische Tjalk, 1904 gebaut“.
Da liegt er, der alte Segler, lang und breit und flach wie eine Flunder. „Das ist ein Plattbodenschiff“, klärt Adrian Carstens mich auf. Das muss er auch, denn ich habe noch nie ein so seltsames Segelboot gesehen. Auch darüber hinaus hat der Museumshafen Harburg Außergewöhnliches zu bieten. „Diese Binnentransportschiffe wurden für die Kanäle und das Wattmeer in Holland gebaut“, erzählt der Hamburger Freizeitkapitän. „Sie haben keinen Kiel, sind also so flach, das man damit sogar über’s Watt segeln kann.“
Dann schauen wir hoch. Der mächtige alte Holzmast ragt 19 Meter in den Abendhimmel. Und unten der Großbaum, mächtige zwölf Meter lang und umwickelt und verpackt mit dem Segel. Um in der Sprache der Segler zu bleiben: Zu dem langen Großbaum gehört ein großes Gaffelsegel. Und was ist das jetzt wieder? Als Laie kann man sich das so vorstellen: Ganz oben ist die dreieckige Spitze des Segels weggeschnitten und das Segeltuch an einem kurzen Querbalken, der Gaffel, befestigt.
Was sind das für Menschen, die sich in ihrer Freizeit mit Dingen aus alten Zeiten beschäftigen? Adrian Carstens, der 40-Jährige, der sich auch im Vorstand des Museumshafen-Vereins engagiert, ist eigentlich Experte des aktuellen Chip-Zeitalters. Als IT-Berater bei der Körber AG organisiert er die Kommunikation zwischen Mitarbeitern, Abteilungen und Geschäftsleitung. „Dabei muss ich im Grunde nicht die Computer, ich muss die Menschen zusammenbringen, die mit ihnen arbeiten“, erzählt er, als wir in die „Jonathan“ gekrabbelt sind.
Und wir haben es uns in der großen Lounge bequem gemacht. „Die Begeisterung für meinen Beruf, das ist sozusagen der Erbteil meines Vaters“, erzählt er. „Der war beim Verlag Gruner und Jahr auch IT-Fachmann“. Und die Liebe zum Wasser und den Boten und Schiffen mit Segeln? „Der Vater meiner Mutter war bei der Handelsmarine und danach viele Jahre Dockmeister bei Blom und Voss. Selbst in Barcelona, wo ich ein paar Jahre gearbeitet habe, lag meine Wohnung am Hafen. Ich brauche das Wasser und die Schiffe.“
Hier unten, im früheren Laderaum der Jonathan, sitzen wir an einem Tisch, der Platz für einen großen Freundeskreis bietet. Der alte Frachtsegler hat übrigens erst 1970 einen Motor bekommen. Die eingebauten Schlafnischen, die Küche, der von Hand gezimmerte Sekretär – man muss nicht lange fragen, wieviel Zeit der Freizeitkapitän auf seiner Jonathan arbeitet. Und auch nicht, wie oft er hier Gäste bewirtet. „Vor allem nach dem Festmachen, wenn beim Anlegen alles geglückt hat“, erzählt Adrian Carstens und öffnet eine Klappe. Dahinter verbirgt sich eine ordentliche Anzahl Flaschen. „Es wird immer angestoßen, mit Rum natürlich. An dem alten Brauch halten wir fest.“
„… und über dir blähen sich 165 Quadratmeter Segelfläche“
Die viele Arbeit, alles mit eigenen Händen zu reparieren und einzubauen, ist für Carstens ein Gegenpol zu hektischen Zeiten. „Getoppt wird das alles“, kommt der Besitzer eines museumsreifen Schiffes ins Philosophieren, „wenn du an der Pinne stehst und über dir blähen sich 165 Quadratmeter Segelfläche. Du hörst und du spürst, wie der Wind Kraft in dein Schiff bringt, wie er es über und durch das Wasser jagen lässt. Das sind Momente, da bist du ganz bei dir, völlig entspannt. Das ist Glück pur“. Er schweigt. Lacht plötzlich. „Aber das Glück ist launisch – wie der Wind. Der schlägt plötzlich, eine Strömung erfasst das Schiff, eine Sandbank. Und im Bruchteil von Sekunden ist Panik angesagt. Aber das gehört dazu. Die musst du besiegen“. Carstens schweigt. „Aber deshalb liebe ich mein Schiff, vor allem unter vollen Segeln. Und dafür lohnt sich das alles“.
Übrigens: Den kräftig zerzausten Seemannsbart lässt Adrian Carstens für einen ungewöhnlichen Auftritt wuchern: Vom 30. November bis zum 1. Dezember gibt es im Museumshafen den schwimmenden Nikolausmarkt. Ein großer Spaß wird dann der Nikolaus sein, der mit einem riesengroßen Geschenkesack von einem Kran an Land gehoben wird. Und dann wird sein weißer Bart im Wind wehen, freut sich Adrian Carstens schon jetzt, auch wenn der Bart dann gefärbt sein wird.