
KP Flügel, St. Pauli
Niels Boeing ist seit Jahren in der „Recht-auf-Stadt“-Bewegung engagiert und bei „St. Pauli selber machen“ aktiv. „Dies ist ein Zusammenschluss diverser Initiativen, den es seit Anfang 2014 gibt, gegründet nach den Auseinandersetzungen um das Gefahrengebiet. Wir beschäftigen uns mit den Fragen: Gentrifizierung, Mietenwahnsinn und Eventisierung von St. Pauli. Was wird aus dem Stadtteil, wohin entwickelt er sich“, beschreibt Boeing.
Der 51-Jährige ist zudem noch aktiv in der Initiative „Wohl Oder Übel“. „Da betreiben wir inzwischen monatlich einen Salon. Im April gab es einen Diskussionsabend zum Thema Kiosk, Cornern, Klobesuche“, erzählt Niels Boeing. „Das war eine Reaktion darauf, dass Akteure aus dem Kiez-Business wie Corny Littmann und Olivia Jones sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt haben.
Die hatten ja gesagt, das ginge hier alles so nicht weiter, die Kioske seien schuld daran, dass alles verkomme. Da hatten wir das Gefühl, also so simpel ist es nicht.“ Daraus habe sich eine Arbeitsgruppe Cornern entwi-ckelt, die sich unter anderem gegen billige Stimmungsmache gegen Kioske richtet. Dazu gab es eine Aktion auf der Reeperbahn.
Niels Boeing plädiert für eine differenzierte Betrachtung, was die Entwicklung auf St. Pauli betrifft. So viele Kioske, wie immer behauptet wird, gäbe es nämlich gar nicht. „Ich habe die selber einmal nachgezählt. Es gibt eine Menge Kioske, die zum Teil seit 20, 30 Jahren da sind und die eine Nachbarschaftsfunktion haben. Die werden jetzt alle in einen Topf geschmissen. Tatsächlich gibt es aber Läden, da sagen wir, dass das gar keine Kioske sind, sondern Getränke-Discounter. Das sollte man genau unterscheiden, bevor jetzt die Kioske zum Sündenbock gemacht werden für das, was hier überhaupt stadtentwicklungsmäßig falsch aufgegleist worden ist.“
Auch müsse die dramatische Mietentwicklung rechts und links der Reeperbahn berücksichtigt werden. Dass sich die klassischen Obst- und Gemüseläden zu Kiosken umwandeln, habe auch einen handfesten ökonomischen Grund. „Die haben alle mal locker eine Mietverdoppelung bekommen.“ Niels Boeing zeigt zur Bekräftigung auf einen Kiosk an der Wohlwillstraße und verweist darauf, dass dieser eine Mieterhöhung um 100 Prozent bekommen sollte. „Natürlich hat er jetzt alles voller Getränkekühlschränke. Da kann ich jetzt nicht so tun, als wenn der nur ein Trittbrettfahrer wäre, der einfach nur Trinker abgreifen will.“
Was das Cornern an sich betrifft, bekennt Niels Boeing: „Ich habe in den letzten 20 Jahren auch immer mal gecornert. Ich will das nicht verurteilen, dass Leute auf der Straße stehen und trinken. Per se ist das eine gute Sache. Wenn es 100 Leute machen, ist es eine Sache, wenn es 500 machen, ist es eine andere.“ Das letztere habe eine ganz andere Qualität.
Die Idee, die Kioske mit einem Alkoholverkaufsverbot ab 22 Uhr regulieren zu wollen, findet er problematisch. Genau wie auch das Romantisieren der Cornerei. „Von denen, die cornern, sind jetzt nicht alle so abgebrannt, dass sie sich nur das Bier aus dem Kiosk leisten könnten. Die Leute haben zum Teil einfach keinen Bock mehr auf die Gastro, die ihnen geboten wird, obwohl sie sich die sogar leisten könnten.“
Niels Boeing kann auch den Ärger der Anwohner nachvollziehen, die sich über das Cornern beschweren. „Der Kiez war nicht immer ballermannisiert, er war immer voll, ruppig und trinkfreudig.“ Trotzdem gebe es Veränderungen zwischen Schanze und Kiez. Bewohnern, die hier sehr lange leben, heute zu sagen, ihr wusstet doch, was euch erwartet, „finde ich unverschämt“, so Boeing.
Wie sieht es damit aus, sich als „St. Pauli selber machen“ zur Wahl zu stellen, um in der Bezirksversammlung praktische Politik zu machen? „Darüber haben wir zwar im Recht auf Stadt-Zusammenhang mal gesprochen, nicht aber bei ‚St. Pauli selber machen‘“. Dann verweist Niels Boeing auf die bisher stattgefundenen sieben großen Stadtteilversammlungen, an denen je nach Themenlage bis zu 1.200 Menschen teilgenommen haben.
Noch einmal nachgehakt, ob eine Beteiligung an Wahlen nicht sinnvoll sein könnte, sagt Niels Boeing: „Viele von uns beobachten, was in anderen Städten passiert, wie beispielsweise in Barcelona. Diese Diskussion ist da, dass man mal überdenkt: Ist das Credo des Außerparlamentarischen heilig oder ändern sich die Zeiten? Dann muss man auch mal über andere Wege nachdenken.“
❱❱ Der offene Stadtteiltreff
„St. Pauli selber machen“ findet jeden ersten Montag im Monat abwechselnd im Kölibri und dem Centro Sociale statt. Weitere Informationen unter
www.st-pauli-selber-machen.de