Volker Stahl, Hamburg
In den Redaktionsräumen von Hinz&Kunzt in der Altstädter Twiete herrscht wuseliges Durcheinander. Hier werden die monatlich erscheinenden Hefte nicht nur produziert, sondern auch an die Verkäufer verteilt. In einer Ecke stapelt sich ein gutes Dutzend Schlafsäcke, an der kleinen Theke wird Kaffee ausgeschenkt. Stimmengewirr durchdringt den Raum. Und wo ist Birgit Müller? „Die schwirrt hier irgendwo herum“, sagt einer, „komm mal mit.“ Nach kurzer Suche eilt die Chefredakteurin dem Besucher entgegen und entschuldigt sich für die Hektik: „Wir produzieren gerade zwei Ausgaben, da gibt‘s ein bisschen Stress.“ 2.000 Menschen ohne Obdach leben in der Hansestadt. Doch das Winternotprogramm der Stadt hielt bis Ostern nur 800 bis 900 Schlafplätze für diese Menschen vor, und der „Erfrierungsschutz“ galt nur nachts. Tagsüber müssen die Unterkünfte von den Nutzern geräumt werden. Aus Protest dagegen hatte Hinz&Kunzt im tiefen Winter zu einer „komisch-schrägen Kunstaktion“ aufgerufen, mit der sich die in Schlafklamotten gewandeten „Künztler“ Ionut, Spinne, Jörg und Norbert demonstrierten und forderten: „Hamburg, mach nicht dicht“.
„Es gibt Lichtblicke auf dem Wohnungsmarkt“, so Müller
Noch schlechter als den deutschen erginge es vielen osteuropäischen Obdachlosen, kritisiert Birgit Müller: „Die haben überhaupt keinen Anspruch dort aufgenommen zu werden, wenn in ihrem Pass eine Adresse vermerkt ist. Die gelten dann nicht als obdachlos.“ Die Betroffenen campieren dann auf Grünstreifen entlang der Hauptverkehrsstraßen oder in Autos, die am Rande von Gewerbegebieten abgestellt werden. „Es ist schon bitter: Deutschland profitiert stark von der EU-Freizügigkeit. Aber für die kleine Gruppe, die hier strandet, sind keine Mittel da.“ Beeindruckt war die 61-Jährige vom Buch „Arrival City“ von Douglas Saunders, das auch Bürgermeister Olaf Scholz gerne zitiert. Müller schildert: „Der Autor besuchte mehrere Länder, schildert das Leben auf dem untersten Level und wie sich Menschen von dort aus hocharbeiten.“ Auch Hamburg sei so eine Ankunftsstadt, meint die Journalistin. Aktuell vor allem für Rumänen und Bulgaren, die es aus der totalen Perspektivlosigkeit hierher ziehe: „Für diese Menschen ist sogar Flaschensammeln in Deutschland eine Perspektive. Diese Menschen leben hier in den allerletzten Bruchbuden.“ Zum Beispiel an der Seehafenstraße, wo skrupellose Vermieter Kasse machen mit dem Elend der Zuwanderer, die sich bis zu viert in ein 17 Quadratmeter großes Zimmer quetschen und dieses mit unliebsamen „Mitbewohnern“ teilen müssen: mit Kakerlaken. Und Schimmelsporen. Das Wichtigste für diese Menschen sei es, erzählt Birgit Müller, die Kinder nachzuholen, auch wenn nur die kleinste Butze zur Verfügung stehe.
Im Restaurant auf Zeit kochen 25 Köche
Die Empathie für Menschen, die am untersten Ende der sozialen Skala stehen, scheint der in Oberhausen geborenen und in Karlsruhe aufgewachsenen Enkelin eines Bonbon- und Waffelfabrikanten ebenso in die Wiege gelegt worden zu sein wie ihre fast schon irrationale Begeisterung für Hamburg. Als Kind hatte sie in der Stadt Urlaub gemacht und war vom vielen Wasser beeindruckt. In den 1980er-Jahren sah sie im Fernsehen einen Bericht über die Einweihung der Fischauktionshalle – und musste weinen, weil sie nicht dabei sein konnte! Ihren emotionalen Heimathafen Hamburg hat sie schon vor langer Zeit mit Erfolg angesteuert, ihr Kampf um soziale Gerechtigkeit geht weiter. „Ich will in einer Gesellschaft leben, in der Armut kein Stigma ist. In der man etwas Gutes für andere, nicht nur für sich selbst tut. Ich leide darunter, wenn ich in einer Ellenbogengesellschaft bin“, sagte sie dem Hamburger Abendblatt, bei dem sie nach ihrem Spanisch- und Germa-nistikstudium und anschließendem Referendariat anheuerte. Der Neoliberalismus dominiere aber auch das politische Hamburg, seufzt Müller: „Bei der CDU herrscht er unverhohlen, doch bei der SPD ist er leider genauso angekommen.“ Übrigens: Von der Stadt erhält Hinz&Kunzt keinen Cent. Träger der gemeinnützigen Verlags- und Vertriebs GmbH sind das Diakonische Werk unter Federführung von Landespastor Dirk Ahrens und die Patriotische Gesellschaft von 1765. Zum 25. Geburtstag des Straßenmagazins kochen seit dem 4. April an 25 Tagen 25 Hamburger Köche in einem „Restaurant auf Zeit“ in der Weidenallee 27. Das abendliche Dreigängemenü zum Festpreis diene als Querfinanzierung für den Mittagstisch, sagt Birgit Müller. „Jeder zahlt dabei, was er kann.“ Die erste Ausgabe von Hinz&Kunzt erschien übrigens am 6. November 1993. „Eigentlich haben Obdachlose und Flüchtlinge auf dem Wohnungsmarkt keine Chance, aber es gibt Lichtblicke“, sagt Müller zum Abschied: „Viele haben mithilfe unseres Projekts eine Bleibe bekommen, zum Beispiel die Kennedys. So nennen wir die Gruppe, die unter der gleichnamigen Brücke übernachtet hat. Die leben jetzt in Eidelstedt.“ Wie das? „Eine Hinz&Kunzt-Käuferin hat ihr Elternhaus in Eidelstedt geerbt und die Nachbarn gefragt, ob sie was dagegen hätten, wenn dort Obdachlose einziehen.“ Hatten sie nicht. ❱❱ www.hinzundkunzt.de