Matthias Greulich, Blankenese
Auf die Propagandatafel am Hamburger Hauptbahnhof verschwendete keiner einen Blick in diesem Sommer. „Sieg oder bolschewistisches Chaos“ stand da, aber die Menschen wollten nur raus aus der Stadt, die von den Bombenangriffen der Allierten schwer getroffen worden war. Wer am Nachmittag des 25. Juli 1943 in der Gegend war und nicht mehr fliehen konnte, ging mit einem kleinen Koffer in den unterirdischen Bunker am Hachmannplatz.
Erich Andres (1905 bis 1992) hat diesen Szene mitten in der „Operation Gomorrha“ festgehalten. Er und fünf weitere Fotografen und eine Fotografin sind im einzigartigen Bildband „Hamburg. Krieg und Nachkrieg. Fotografien 1939–1949“ vertreten, der vom Historiker Jan Zimmermann herausgegeben wurde.
Die Auswahl der überwiegend schwarz-weißen Fotografien zeigt die Hochstimmung in der Bevölkerung vor dem Stapellauf des Schlachtschiff Bismarck, die ersten Bombenschäden 1940 in Harburg, die Skelette der Häuser des komplett zerstörten Hammerbrook, den Kohlenklau in der Nachkriegszeit und lange Schlangen in der Konditorei Hirte im Treppenviertel, als es dort 1948 wieder etwas zu kaufen gab. Dort fotografierte die Blankeneser Fotografin Alice O’Swald-Ruperti (1904 bis 1989).
Aus den Erzählungen der Großeltern oder Urgroßeltern können sich viele Hamburger meist kein Bild dieser Dekade machen. Im vorliegenden Bildband kommen dem heutigen Betrachter viele Schauplätze bekannt vor. An der Mönckebergstraße blickten Passanten 1944 buchstäblich in den Abgrund, der Bombenkrater ist auf dem Cover des Buches verewigt.
Bilder vom brennenden Alsterpavillon
Der Band enthält Bilder von Pressefotografen, die anders als gerne behauptet, die Zerstörungen ungehindert festhalten durften. Andres fotografierte unter anderem die Trümmer seines Wohnhauses in der Campestraße (heute Süderstraße) in Hammmerbrook.
Hugo Schmidt-Luchs (1890 bis 1975) war als offizieller „Bildberichterstatter“ mit seinem Motorrad schnell am Ort des Geschehens. Seine Bilder vom brennenden Alsterpavillon, wo sich die Swingjugend bis 1942 getroffen hatte, durften nicht gedruckt werden. Im Ok-tober 1944 fotografierte er Häftlinge des KZ-Neuengamme, die in der Gerhofstraße bei der Sprengung einer Ruine neben ihren Bewachern standen, wo sie nach Blindgängern suchen mussten.
Ein häufig wiederkehrender Schauplatz war die Moorweide. Dort leisteten neben dem noch heute existierenden Rundbunker Krankenschwestern erste Hilfe im Freien. In der Nähe saß eine junge Frau, die eine Ausgabe des „Niederdeutschen Beobachters“ vom 31. Juli 1943 las. Die Tageszeitung der NSDAP meldet als Schlagzeile über Hamburg abgeschossene Bomber als Erfolge. Im Herbst 1941 waren auf der Moorweide die ersten jüdischen Hamburger deportiert worden. „Sie wurden nicht fotografiert“, schreibt Bildband-Herausgeber Zimmermann im Vorwort, „doch spiegeln sich die von Hamburgern mitgetragenen Verbrechen in den Fotografien von zerstörtem jüdischen Eigentum – Hausrat, eine Schule, ein Friedhof.“
Dieser Bildband kann die Geschichtsschreibung nur ergänzen. Das gelingt ihm aber auf grandiose Weise.
Buchtipp
Jan Zimmermann (Herausgeber): Hamburg. Krieg und Nachkrieg.
Fotografien 1939–1949
Die Fotografen: Erich
Andres, Willi Beutler, Walter Lüden, Alice O’Swald-
Ruperti, Theo Scheerer,
Hugo Schmidt-Luchs und
Joseph Schorer.
Junius Verlag, 49,90 Euro
ISBN 978-3-88506-802-0